Familie Hnativ

Getrenntes Weinachten: die Frauen feiern in Stuttgart, die Männer in der Ukraine

Zweimal im Jahr Weihnachten feiern. Das klingt nach einem Traum vieler Kinder. Für Familie Hnativ ist das dieses Jahr Realität: Das erste Mal feierte die Familie Weihnachten am 7. Januar 2022 nach dem julianischen Kalender in der Ukraine, unbekümmert, ohne den bevorstehenden Krieg zu erahnen. Das zweite Weihnachten in diesem Jahr wird sie am 25. Dezember nach dem gregorianischen Kalender feiern. Aufgrund des Krieges ist die Familie jedoch getrennt: Svitlana Hnativ feiert mit ihrem Sohn und ihrer Mutter in Stuttgart; ihre Brüder mit deren Familien und ihr Vater sind in der Westukraine.

Familie Hnativ beim gemeinsamen Heilig Abend am 6. Januar 2022 - nach dem julianischen Kalender © privat
Familie Hnativ beim gemeinsamen Heilig Abend am 6. Januar 2022 - nach dem julianischen Kalender

Die 36-jährige Svitlana Hnativ schaut auf ihrem Smartphone wehmütig die Bilder vom 6. Januar 2022 an. An Heiligabend ist die ganze Familie, feierlich in Tracht gekleidet, um den großen Tisch im Haus der Eltern vereint. Auf dem Tisch stehen zwölf Speisen, angerichtet in braunem Geschirr, das nur für besondere Anlässe – Weihnachten und Ostern – ausgepackt wird. Ein glückliches Familienfoto. Damals ahnt niemand von ihnen, dass sie das nächste Weihnachten getrennt sein werden. Als Svitlana mit ihrer Mutter Sophia und ihrem Sohn Danylo Anfang März nach Stuttgart flieht, hat sie nur wenig Gepäck dabei. Schließlich ist die Hoffnung groß, bald wieder in die Heimat zurückkehren zu können.

Weihnachtstraditionen in der Ukraine

Heiligabend verbringt die Familie eigentlich gemeinsam im Elternhaus in Polyany, einem kleinen Ort in der Nähe von Lwiw. Zu Essen gibt es zwölf Fastenspeisen, die Zahl erinnert an die zwölf Apostel. „Wir warten mit dem Essen, bis der erste Stern am Himmel zu sehen ist“, erklärt Sophia Hnativ. Bevor jedoch gegessen wird, bringen die Männer Heu ins Wohnzimmer und breiten es auf dem Boden aus. Es soll einen Hauch der Umstände von der Geburt Christi ins Wohnzimmer bringen. Anschließend beten alle gemeinsam und der Familienälteste zündet eine Kerze an. „Dann nimmt jeder seinen Löffel. Diesen darf man erst wieder ablegen, wenn man alle zwölf Speisen gegessen hat. Legt man ihn davor ab, wird einem das ganze Jahr der Rücken weh tun“, erzählt Svitlana Hnativ von ihrer speziellen Familientradition.

Zwölf Fastenspeisen

Los geht es bei Familie Hnativ mit einer vegetarischen Variante von Borschtsch, der ukrainischen Rote-Bete-Suppe. Anschließend gibt es Pilzsuppe, Teigtaschen gefüllt mit Kartoffeln und Kraut, Zwiebelpuffer, Kohlrouladen, gebratenen Fisch, Heringsfilet und gedünstetes Sauerkraut mit Pilzen. „Wir machen auch eine Art Berliner. Alle bis auf einen sind mit Marmelade gefüllt. Wer den mit Pfeffer erwischt, wird reich – so sagt man zumindest“, erzählt die 59-jährige Sophia Hnativ. Darüber hinaus gibt es das traditionelle Weihnachtsgebäck Kalatsch sowie Usvar, ein Getränk aus Wasser, Honig und getrockneten Früchten, das nur an Heiligabend serviert wird. „Das Wichtigste ist Kutja“, betont Svitlana Hnativ. „Das ist die Hauptspeise und steht in der Mitte des Tisches.“ Dieses nahrhafte süße Gericht bereiten die beiden Frauen aus Weizenkörnern, Mohnsamen, Honig, Rosinen, Nüssen und Aprikosen zu.

Nach dem Essen singt die Familie gemeinsam Weihnachtslieder. „Seit ein paar Jahren lernen wir jedes Weihnachten ein neues Lied, das ist eine neue Tradition“, sagt Svitlana Hnativ.

Gemeinsames Feiern und Singen in der Dorfmitte

An Heiligabend folgen weitere Traditionen: abends ziehen „Kolyadnyky“, in diesem Fall jugendliche Jungs, von Tür zu Tür und singen Weihnachtslieder, bei „Vertep“ führt eine Gruppe Erwachsener ein Krippenspiel auf und wünscht frohe Weihnachten. Am späten Abend trifft sich dann das ganze Dorf. In der Mitte des Ortes steht ein Weihnachtsbaum mit einer Krippe und alle singen gemeinsam Weihnachtslieder. „Im Haus bleiben die Gerichte für die Seelen der Verstorbenen auf dem Tisch stehen. Erst am nächsten Morgen räumen wir sie ab“, berichtet Sophia Hnativ. Am ersten Weihnachtsfeiertag geht die Familie morgens in die Kirche. Nach dem Gottesdienst gibt es ein großes gemeinsames Frühstück. Drei Tage wird nun gefeiert bevor am 9. Januar der Familienälteste das Heu wieder aus dem Haus bringt.

Erstes Weihnachten in Stuttgart

Ohne Heu, aber mit den zwölf Gerichten und mit vielen Weihnachtsliedern wollen Sophia, Svitlana und Danylo Hnativ ihr erstes Weihnachten in Deutschland feiern. Die ukrainische griechisch-katholische Kirche Stuttgart hat Familie Hnativ und andere eingeladen, die Weihnachtszeit gemeinsam zu verbringen. Mit den Männern wird man, wenn es die Stromversorgung in der Ukraine zulässt, per Video Weihnachten feiern. Svitlana Hnativs Brüder mit den Familien und ihr Vater werden sich in kleiner Runde in Polyany treffen und dort den Umständen entsprechend Weihnachten feiern. „Meine Schwägerin ist noch in der Ukraine, sie wird dieses Mal die zwölf Speisen zubereiten“, erzählt Svitlana Hnativ, die froh ist, dass keiner ihrer Lieben im Krieg kämpfen muss. Ihre Brüder und ihr Vater unterstützen vor Ort, wo Hilfe benötigt wird, zum Beispiel nehmen sie Binnenflüchtlinge auf.

Getrenntes Weihnachtsfest voller Hoffnung

Allein bei dem Gedanken an das getrennte Weihnachtsfest kommen den beiden Frauen die Tränen. Und trotzdem sind sie dankbar und voller Hoffnung: „Wir danken Gott, dass alle Mitglieder der Familie am Leben und gesund sind und dass wir überhaupt Weihnachten feiern können“, sagt Sophia Hnativ. „Wir sind hin- und hergerissen. Mit dem Herzen sind wir zu Hause und dennoch freuen wir uns auf Weihnachten hier“, ergänzt ihre Tochter. „Wir sind dankbar, dass wir von der Gemeinde so gut aufgenommen wurden und dass sich die deutschen Bürger so für uns engagieren. Wir danken auch Familie Casorati, die uns nach Deutschland eingeladen hat und uns weiterhin so unterstützt.“ Sophia Hnativ blickt nicht nur zurück auf das vergangene Weihnachten, sondern auch voraus: „Dieses Jahr feiern wir Weihnachten in der Hoffnung, dass wir nächstes Jahr wieder alle gemeinsam in der Ukraine vereint an einem Tisch sind.“

Spenden für notleidende Ukrainerinnen und Ukrainer

Der Chor der ukrainischen griechisch-katholischen Gemeinde, bei dem auch Svitlana Hnativ mitsingt, zieht an Weihnachten von Haus zu Haus und sammelt Spenden.

Möchten Sie Ukrainerinnen und Ukrainer ebenfalls mit einer Spende unterstützen?

Konto: Katholisches Stadtdekanat
IBAN: DE63 6005 0101 0004 6461 92 / BIC: SOLADEST600
Bitte unbedingt folgenden Verwendungszweck angeben: Spende Ukraine

Kennen Sie unseren Newsletter? 

Wir informieren Sie gerne über unsere aktuellen Themen. Melden Sie sich hier für unseren Newsletter an. 

Anmelden