Viele katholische Gemeinden in Stuttgart schreiben die Frauen und Männer an, die ausgetreten sind. Die Rückmeldungen zeigen vielfach vor allem eines: es ist nicht die Erfahrung mit der katholischen Kirche vor Ort, die die Menschen zu der Entscheidung bewogen haben, es ist vielmehr die Reformunfähigkeit der Kirche in vielen grundlegenden Fragen, der die Menschen nicht länger zuschauen möchten. „Missbrauch und seine Vertuschung, Machtgebaren in der Kirche, Mitbestimmung, Geschlechtergerechtigkeit, Amtsverständnis, Moral: das sind für sehr viele inzwischen Ärgernisse, die sie nicht mehr tolerieren“, stellt Stadtdekan Christian Hermes fest.
„Das ist eine Entwicklung, die uns wachrütteln muss“
In Stuttgart sind im vergangenen Jahr insgesamt 3052 Menschen aus der katholischen Kirche ausgetreten, im Vergleich zu 2089 Austritten im Jahr 2020 und 2622 im Jahr 2019. Demnach gehörten zum Jahresende 2021 noch 127 625 Frauen und Männer der katholischen Kirche in Stuttgart an (im Vergleich zu 132 873 im Jahr 2020). „Wir haben im vergangenen Jahr so viele Menschen wie noch nie binnen eines Jahres verloren. Übertragen ist das eine große Gemeinde, die sich verabschiedet hat. Das ist eine Entwicklung, die uns wachrütteln muss und die wir nicht schönreden dürfen“, so Hermes.
Rechts- und Gerechtigkeitserwartungen nicht ignorieren
Er setzt deshalb auf den Synodalen Weg, dessen Synodalversammlung bereits viele Reformvorschläge zu verschiedenen Themen vorgelegt hat, auch im Bereich Gewaltenteilung, Machtkontrolle, Geschlechtergerechtigkeit und Sexualität und damit auch zu der Rolle der Frau und dem Umgang mit gleichgeschlechtlichen Paaren. Der Stuttgarter Stadtdekan „Ich wundere mich sehr über manche Kritik am Synodalen Weg, der diesen als gefährlich für den Bestand der Kirche ansieht. Ganz im Gegenteil: Selbstverständliche Rechts- und Gerechtigkeitserwartungen von Menschen des 21. Jahrhunderts zu ignorieren, gefährdet die Kirche. Deshalb werde ich mich weiter für Reformen einsetzen, selbst wenn ich weiß, dass die allgemeine Entwicklung, siehe evangelische Kirche, die ehemaligen Volkskirchen weiter abschmelzen lässt.“
Vor Ort nah an den Menschen sein und Neues wagen
Für die Arbeit vor Ort gibt es nach Ansicht von Christian Hermes nur eines: nah an den Menschen sein, Schwerpunkte setzen, Neues wagen, sich in gesellschaftlichen und sozialen Fragen auf der Höhe der Zeit zeigen. „Wir haben mit dem Spirituellen Zentrum station s und der Kirche St. Maria unsere Kirchen weit in die Stadtgesellschaft hinein geöffnet und sprechen damit auch Menschen an, die sonst keinen Kontakt mehr zu Kirche haben.“