Anlassloser Sonntagsverkauf

„Wenn der Sonntagsschutz weg ist, ist er weg“

Corona befeuert die Diskussion um anlasslose verkaufsoffene Sonntage. Dabei sind es nicht nur die Kirchen und die Gewerkschaften, die für den Sonntagsschutz eintreten, vielmehr ist dieser im Grundgesetz ausdrücklich geschützt. Was oft übersehen wird: Das Ladenöffnungsgesetz des Landes benennt schon jetzt Ausnahmen, die eine Sonntagsöffnung möglich machen. Im Interview weist Stadtdekan Christian Hermes auf die langfristigen gesellschaftlichen Folgen hin, die eine weitergehende anlasslose Sonntagsöffung mit sich bringen würde: „Wenn der Sonntagsschutz weg ist, ist er weg. Dann gibt es nur noch Werktage, und Mama hat mittwochs frei und Papa freitags, und die Kinder am Samstag und Sonntag.“

Es gibt ein höchstrichterliches Urteil, und es gibt in Baden-Württemberg eine klare Botschaft von Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut, die Idee der Sonntagsöffnungen nicht weiter zu befeuern. Warum reicht das nicht allen?

Seit einer gefühlten Ewigkeit versuchen die Interessenverbände des Handels immer wieder und mit immer neuen Argumenten, den grundgesetzlichen Schutz der Sonn- und Feiertage im Namen eines grenzenlosen Marktliberalismus aufzuweichen. Ich bin dankbar für die Positionierung der Landesregierung. Aber mir ist aufgefallen, dass unsere CDU-Wirtschaftsministerin sich offenbar mit dem Sonntagsschutz auch nicht wirklich identifiziert, sondern den Schwarzen Peter gerne bei den Kirchen und Gewerkschaften lässt, als ob es nur an deren Widerstand läge, dass keine anlasslosen verkaufsoffenen Sonntage durchsetzbar sind.

Woran liegt es denn, dass keine anlasslosen verkaufsoffenen Sonntage möglich sind?

Es liegt daran, dass es in unserer Verfassung und unserer Gesellschaft auch noch nicht-ökonomische Werte gibt, die wertvoll und durch eine Regierung zu schützen sind, zum Beispiel die Sonn- und Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung, wie das Grundgesetz so schön sagt. Es gibt dazu ja auch eine ganz unmissverständliche höchstrichterliche Rechtsprechung.

Halten Sie Corona für ein taugliches Argument pro Ladenöffnung?

Der stationäre Einzelhandel hat es sowieso schwer und durch Corona nun noch einmal schwerer, das ist klar. Aber Corona ist kein Argument für eine weitergehende Ladenöffnung, gar in Richtung anlassloser Sonntagsöffnung. Seit Jahren ist die Diskussion ja dieselbe, nur die Argumente werden variiert. Interessant ist, dass auch nicht wenige Einzelhändler keine verkaufsoffenen Sonntage wollen oder umsetzen können, weil sie da gar nicht den Umsatz machen, um die Kosten reinzuholen. Fragt sich also, wer das so pusht und warum? Im Moment fehlen ja nicht die Öffnungszeiten, sondern die Kunden. Es ist eine Illusion zu meinen, man könnte den Einzelhandel auf Kosten der Sonn- und Feiertage oder der Arbeitsbedingungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern retten. Auch nach Corona wird der Strukturwandel weitergehen und neue Geschäftsmodelle verlangen - es wäre cool, wenn sich die Handelsverbände darum kümmern könnten. Die Frage seit Jahr und Tag ist ja: Wer profitiert am Ende denn? Wer kann ein entspanntes Shopping-Erlebnis genießen, und wer muss dafür im Laden stehen? Wer muss sich eine Kinderbetreuung besorgen, weil er oder sie am Sonntag arbeiten muss? Übrigens sollten Politiker und gerne auch Unternehmen, die für Sonntagsöffnung eintreten, sich konsequent zugleich auch darum kümmern, Kitas einzurichten, die sonntags die Betreuung sicherstellen. Dazu hören Sie gar nichts. Das ist alles nicht zuende gedacht.

Was wären aus Ihrer Sicht berechtigte Gründe, Ausnahmesituationen geltend zu machen und Läden doch zu öffnen?

Das Ladenöffnungsgesetz Baden-Württemberg benennt die akzeptablen Ausnahmen "aus Anlass von örtlichen Festen, Märkten, Messen oder ähnlichen Veranstaltungen an jährlich höchstens drei Sonn- und Feiertagen". Dabei sind die Adventssonntage, die Feiertage im Dezember sowie der Oster- und Pfingstsonntag per se ausgeschlossen. Die Gerichte haben betont, dass keine "Alibiveranstaltungen" erfunden werden dürfen, sondern der Anlass, der die Ausnahme begründet, gerade unabhängig von der Ladenöffnung bestehen muss. Das ist eine gute Regelung, die so bleiben muss, zumal es ja schon vielfältige Ausnahmen und Ausnahmemöglichkeiten gibt. Weitergehende Ausnahmen können zum Beispiel auch zugelassen werden, sofern sie "im öffentlichen Interesse dringend nötig" sind. Einzelne privatwirtschaftliche Interessen sind aber keine "öffentlichen Interessen" und begründen also gerade keine Ausnahmen, und das ist gut so.

Warum gelingt es eigentlich den diversen Interessensvertretern für den Sonntagsschutz nicht besser, öffentlich ihre Position zu vermitteln und zu erklären?

Kirchen und Gewerkschaften stehen beim Sonntagsschutz "Seit an Seit", und zwar nicht nur beieinander, sondern an der Seite des Grundgesetzes. In der Diskussion werden wir natürlich gerne als die Spaßbremsen hingestellt, und jetzt sollen wir auch noch für die Probleme des Einzelhandels zuständig sein. Und richtig ist ja auch: Wer wollte nicht am Sonntag Einkaufsspaß haben? Oder von mir aus auch nachts, 24/7? Es ist doch schön, jederzeit alles verfügbar zu haben. Ich möchte da aber auf die Klugheit der politisch Verantwortlichen vertrauen, die Nutzen, Risiken und Folgen abzuwägen haben und auch zwischen kurzfristigen und scheinbaren Vorteilen und langfristigen Folgen und Nachteilen unterscheiden müssen. Und da ist - zumindest noch - eine Mehrheit mit uns einig: Die kulturellen und gesellschaftlichen "Kosten" rechtfertigen eine Aufweichung oder Aufgabe des Sonn- und Feiertagsschutzes nicht.

Was sind denn die langfristigen Folgen, die es zu bedenken gilt?
Zugegeben: In der öffentlichen Diskussion sind solche langfristigen Folgen manchmal schwer zu vermitteln. Aber klar ist: Wenn der Sonntagsschutz weg ist, ist er weg. Dann gibt es nur noch Werktage, und Mama hat mittwochs frei und Papa freitags, und die Kinder am Samstag und Sonntag und so weiter. Wer fragt: Willst Du sonntags shoppen können?, der sollte besser fragen: Willst du sonntags schaffen müssen? Das ist die Diskussion, die wir ehrlicherweise führen müssen.  

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