Stress, Hektik, schlechte Nachrichten: Vielen Menschen fällt es zunehmend schwer, zu sich selbst zu kommen. Einen ungewöhnlichen Weg, die eigene Mitte zu finden, bietet nun eine katholische Kirche in Stuttgart an: In Sankt Fidelis hat die Salzburger Künstlerin Marianne Ewaldt auf dem Boden ein begehbares Spiegellabyrinth ausgelegt - aus mehr als 800 Spiegelkacheln. Auf kleinen Holzklötzchen sind sie wie Domino-Steine aneinandergereiht. Das temporäre Projekt ist jetzt bis zum 15. Mai zu sehen: Seit Dienstag ist die bundesweit einzigartige Kunstinstallation kostenlos zugänglich, von 8.00 Uhr bis 19.00 Uhr.
Kein Irrgarten
Wer sich auf den Weg durchs Labyrinth macht, staunt. Aus mehreren Gründen: Der Weg dauert einige Minuten und ist mit knapp 100 Metern länger als zunächst gedacht. "Manche glauben sogar, falsch abgebogen zu sein, weil sie sich auf dem Weg ins Innere plötzlich auf der Außenbahn wiederfinden", berichtet Pfarrer Stefan Karbach. Doch das hat seine Richtigkeit. Denn der Weg ins Zentrum führt tatsächlich zwar erstmal nach innen, dann aber wieder nach außen und erst am Ende wieder in die Mitte.
Für die Künstlerin Marianne Ewaldt bedeutet dieser Weg "eine ganzheitliche Erfahrung - für Körper, Geist und Seele". Sie hat seit den 1990er Jahren Labyrinthe aus verschiedenen Materialien an verschiedenen Orten errichtet, aber noch nie ein Spiegellabyrinth in einer Kirche. Das Labyrinth sei ein uraltes Symbol der Menschheit: Ein Weg umkreist in mehrfachen Windungen das Zentrum - und führt schließlich in die Mitte - anders als ein Irrgarten, bei dem es auch falsche Abzweigungen gibt.
"Faszinierende Erfahrung"
Und der spirituelle Effekt? "Es ist faszinierend: Man wird im Gehen ruhiger, fokussierter", sagt die Sonderschulpädagogin Constanze Alt, die mit ihrer Tochter Felicitas in die Sankt-Fidelis-Kirche gekommen
ist. Die beiden Frauen aus Ludwigsburg wollten eigentlich nur ihre Mutter in einem benachbarten Krankenhaus besuchen, doch dann sahen sie das Plakat an der Außenmauer der Kirche "Spiegellabyrinth - zur Mitte finden".
Tatsächlich sei das bei ihr geschehen, als sie das überraschend große Zentrum des Labyrinths erreichte, sagt Constanze Alt: "Dort hätte ich mich am liebsten hingelegt und nach oben geschaut." Und ihre Tochter Felicitas, von Beruf Altenpflegerin, erlebte Ähnliches: "Man ist mehr in sich." Im Alltag schaue man zu oft, was andere von einem
erwarteten.
Kein hundertfaches Selbstbild
Und noch etwas hat sie zwischen den glänzenden Spiegelkacheln erlebt, die einen schmalen Weg markieren: Wenn jemand entgegenkommt, der auf dem Weg nach "draußen" ist, wird es eng: "Da man muss Rücksicht nehmen, sich einen Schritt zurücknehmen, damit der andere vorbeikann." In den 15 mal 15 Zentimeter kleinen Spiegelkacheln sieht man sich - anders als man es zuerst vielleicht erwartet - nicht selbst hundertfach. Doch man sieht Dinge, die man zuvor weniger beachtet hat: "Darin spiegeln sich die Kirchenfenster, deren Verzierungen ich zuvor gar nicht so bemerkt hatte", sagt Felicitas Alt.
In der Kirche, deren hoher Innenraum wie eine lichtdurchflutete Halle wirkt, ist es sonst still. Es gibt keine Hintergrundmusik - nur zu ausgewählten Zeiten. Am Donnerstagabend (8. Mai) erklingt im Spiegellabyrinth das wohl bekannteste Werk des estnischen Komponisten Arvo Pärt: "Spiegel im Spiegel." Pärts meditative Musik sei ebenfalls geprägt von "scheinbar endlosen Spiegelungen", so Tobias Wittmann, künstlerischer Leiter des Projekts "Klangraum st.fidelis".
Sehnsucht nach Stille in unruhiger Welt
Die Theologin Kirstin Kruger-Weiß leitet zusammen mit Pfarrer Karbach das Spirituelle Zentrum "station s", das 2019 gegründet wurde und in Sankt Fidelis im Stuttgarter Westen beheimatet ist. Sie betont, die Sehnsucht nach Stille und Konzentration habe angesichts einer unruhigen Weltlage zugenommen. Die Pastoralreferentin und Geistliche Begleiterin sieht das Spiegellabyrinth als Angebot insbesondere für Menschen, "die klassischerweise nicht in eine Kirche kommen".