Atlas der Religionen

„Die religiöse Vielfalt hat uns überrascht“

Stuttgart hat sich von einer evangelischen Stadt zu einer Großstadt entwickelt, in der mehr als 250 Glaubensgemeinschaften aus allen fünf Weltreligionen und darüber hinaus beheimatet sind. Wer wissen möchte, wie religiös die Stuttgarter eigentlich sind, welche religiösen Feste sie feiern, wo sie beten und ob sie dazu eine Glaubensgemeinschaft brauchen, der findet im Atlas der Religionen Antworten. Das bundesweit einmalige Projekt ist möglich geworden dank der Zusammenarbeit der Stadt Stuttgart und dem Rat der Religionen. „Religionsgemeinschaften sind geistige, spirituelle und soziale Zentren in einer Stadt. Wir waren überrascht, in welcher großen Vielfalt sie in Stuttgart durch den Atlas kenntlich werden“, sagt Ordnungsbürgermeister Martin Schairer, der Religionsbeauftragte der Stadt Stuttgart.

Zusammen gelaufen sind alle Fäden für den Atlas beim Statistischen Amt der Stadt Stuttgart. „Erstmals haben wir mit dem Atlas die ganze Vielfalt der religiösen Landschaft in Stuttgart zusammengestellt. Und das von zwei Seiten: zum einen von Seiten der Stadtforschung und Statistik in bisher einmaliger Tiefe und auf der anderen Seite dokumentarisch“, sagt Ansgar Schmitz-Veltin, der Leiter der Abteilung Wirtschaft und Befragungen des Statistischen Amtes sowie Koordinator und Mitautor beim Atlas der Religionen. Der Stadt und dem Rat der Religionen sei es ein großes Anliegen gewesen, nicht nur Analysen zu präsentieren, sondern auch handfeste Informationen zu den religiösen Gemeinschaften und Gruppierungen in Stuttgart aufzuzeigen. Wie vielfältig die religiöse Landschaft in Stuttgart ist, zeigt ein Blick auf den umfänglichen Infoteil im Atlas der Religionen, wo die neuapostolische Kirche ihre Standorte vorstellt, der Hindu-Verein Stuttgart seine Feste präsentiert, der Afghanische Kulturverein zum Freitagsgebet lädt, die Martin Luther Kirche auf ihre Sonntagsschule hinweist und sich insgesamt 200 Glaubensgemeinschaften mit ihren Feiertagen und Angeboten präsentieren. 

„Nur wenn wir voneinander wissen, ist eine Verständigung möglich“

Der Atlas zeigt zwei grundlegende Entwicklungen auf eindrückliche Weise auf: Die beiden Volkskirchen verlieren an Mitgliedern. Diesem Rückgang aber steht ein Zugewinn an neuen Religionen und Glaubensformen gegenüber. „Auch wenn die Bindung an die traditionellen, institutionalisierten Volkskirchen abnimmt, nehmen Zahl, Vielfalt und Organisationsform der Religionsgemeinschaften zu“, stellt der katholische Stadtdekan Christian Hermes fest, der vor vier Jahren den Anstoß für den Atlas der Religionen gegeben hat. „Es war uns ein Anliegen, den Menschen einen einzigartigen und umfassenden Überblick über die existierenden Religionsgemeinschaften in Stuttgart geben zu können. Wenn ein Miteinander in einer pluralen Gesellschaft gelingen sollen, sind nicht gleichgültige Unkenntnis, sondern Verständnis, Interesse und Wissen übereinander die Grundlage für eine fruchtbare Verständigung“, so Christian Hermes.

Von der evangelischen zu einer religiös pluralen Großstadt

Historisch gesehen hat sich Stuttgart von einer evangelischen Stadt zu einer religiös pluralen Großstadt entwickelt. Um das Jahr 1900 gehörten 83 Prozent der Stuttgarter der evangelischen Kirche an, heute sind es noch 23 Prozent (141 518 Stand Ende 2019). Der katholischen Kirche, der um das Jahr 1900 nur 15 Prozent der Stuttgarter Einwohner zuzurechnen waren, zählt heute 136 080 Mitglieder (Stand Ende 2019), was 22 Prozent der Einwohner entspricht. Damit gehören den beiden Volkskirchen trotz stetig abnehmender Mitgliederzahlen noch immer 45 Prozent der Stuttgarterinnen und Stuttgarter an. Christentum ist aber viel mehr als nur römisch-katholisch oder evangelisch landeskirchlich: So führt der Atlas nicht weniger als 70 weitere christliche Gemeinschaften auf. Fast ein Drittel der evangelischen Christen rechnet sich einer evangelischen Freikirche zu; durch Migration und Flucht haben weitere orthodoxe und orientalische christliche Kirchen in Stuttgart Fuß gefasst.

Die beiden großen Kirchen haben sich zahlenmäßig angenähert

Was der Atlas der Religionen aber auch eindrücklich zeigt: Sowohl die evangelische als auch die katholische Kirche in Stuttgart haben in absoluten Zahlen im Jahr 2019 so viele Kirchenmitglieder wie noch nie durch Austritte und Todesfälle verloren (bei der evangelischen Kirche liegt der Saldo bei 3635 Mitgliedern, bei der katholischen Kirche bei 2818 Mitgliedern). Die Austrittswahrscheinlichkeit ist bei Menschen im Alter um die 30 Jahre am höchsten, in der Zeit also, in der sie in den Beruf einsteigen und damit auch der Kirchensteuer unterliegen. Während sich katholische und evangelische Kirche zahlenmäßig angenähert haben, gibt es große Unterschiede bei der Herkunft: Während bei den Mitgliedern der katholischen Kirche 45,3 Prozent einen Migrationshintergrund haben, sind es bei der evangelischen Kirche in Stuttgart gerade 11,6 Prozent.

Die Mehrzahl der Stuttgarter bezeichnet sich als religiös

Der Atlas der Religionen zeigt aber auch, dass Religiosität und Religionszugehörigkeit zwei unterschiedliche Aspekte sind. „Anders als ein erster Blick auf die Zugehörigkeit der Stuttgarter Bevölkerung zu öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften vermuten lässt, spielt die Religiosität für viele Menschen in der Stadt nach wie vor eine wichtige Rolle“, sagt Ansgar Schmitz-Veltin, der für den Atlas der Religionen Daten der Bürgerumfrage 2019 ausgewertet hat. Das Ergebnis: Auf der einen Seite sind nicht alle Kirchenmitglieder besonders religiös. Auf der anderen Seite leben viele sehr religiöse Menschen in Stuttgart, die kein Mitglied in einer der beiden großen Kirchen sind. Drei Viertel der Stuttgarterinnen und Stuttgarter bezeichnen sich in der Umfrage als zumindest ein wenig religiös, 23 Prozent beten mindestens einmal in der Woche und gut 20 Prozent der Menschen glauben sehr stark an Gott oder etwas Göttliches. Demgegenüber liegt der Anteil der nicht religiösen Menschen nach Schätzungen bei rund einem Viertel. „Glaube und Mitgliedschaft in einer traditionellen Kirche entkoppeln sich immer mehr“, sagt Ansgar Schmitz-Veltin. Und Stadtdekan Christian Hermes ergänzt: „Der Atlas kann sehr gut zeigen, dass nicht nur die Vielfalt der Religionen, sondern auch der Organisationsformen von Religion zugenommen haben." Kirche oder öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaft seien stark von der deutschen Rechtstradition und den Volkskirchen geprägte Formen, andere Religionen würden sich ganz anders organisieren und könnten darum auch nur mit Studien wie dem Stuttgarter Atlas angemessen sichtbar gemacht werden.

In den Stadtbezirken zeigen sich große Unterschiede

Interessant ist auch der kleinteiligere Blick auf die Stadtbezirke, den der Atlas der Religionen ermöglicht und der große Unterschiede aufzeigt. Während vor allem im Süden der Stadt mehr als ein Viertel der Einwohnerinnen und Einwohner der evangelischen Kirche angehören, erreichen die römisch-katholischen Einwohner entlang des Neckars zum Teil höhere Werte als die evangelischen. In Mitte und den nördlichen Stadtbezirken dominieren mit deutlich mehr als 50 Prozent die Einwohner ohne Mitgliedschaft in einer öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaft.

Muslimische und jüdische Bevölkerung im Blick

Was in einem Atlas der Religionen auch nicht fehlen darf, ist die Entwicklung der muslimischen Bevölkerung, die stark von Zuwanderung geprägt ist. Zehn Prozent der Stuttgarter (59 000 von 614 600 Einwohnern Stand Ende 2019) sind muslimischen Glaubens, von denen 67 Prozent aus Südosteuropa stammen. Ebenfalls stark von der Zuwanderung geprägt ist die jüdische Gemeinde. Ende 2019 waren 1480 Stuttgarterinnen und Stuttgarter jüdischen Glaubens, das entspricht einem Bevölkerungsanteil von 0,2 Prozent. Nach den Erhebungen des Statistischen Amts lässt der überwiegende Teil der jüdischen Einwohner einen Migrationshintergrund erkennen. Mehr als die Hälfte der jüdischen Stuttgarterinnen und Stuttgarter sind 65 Jahre und älter.

Hier finden Sie den Atlas der Religionen als PDF

 

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