Nächtliches Gedenken

Für jeden Coronatoten fällt ein Nagel

In Deutschland sind bisher mehr als 76 500 Menschen an und mit Covid 19 verstorben. Der Theologe Sebastian Schmid sowie der Künstler und Jugendreferent Marios Pergialis erinnern in einer liturgischen Performance an jede und jeden einzelnen von ihnen. In der Nacht von Gründonnerstag auf Karfreitag lassen sie in der Kirche St. Maria für jeden Verstorbenen einen Nagel in eine große Metallschale fallen. Jeder Nagel erzeugt dabei einen Ton, der als „Ruf“ zu verstehen ist: als fragender, klagender und anklagender Ruf, aber auch als Nachruf und Hilferuf. „Wir tragen damit jeden Menschen noch einmal vor Gott und in unser Bewusstsein“, sagt Sebastian Schmid. Der erste Nagel wird um 20 Uhr am Gründonnerstag fallen, der letzte in den Morgenstunden am Karfreitag. Die Kirche wird anders als ursprünglich geplant in der Nacht geschlossen bleiben. Die Schale aber bleibt in den Tagen von Karfreitag bis Ostermontag und auch noch in den Tagen danach in der Kirche St. Maria stehen, so dass die Menschen die Möglichkeit haben, im stillen Gebet der Toten zu gedenken.

Auf Worte werden Marios Pergialis und Sebastian Schmid weitgehend verzichten. Sie beginnen Gründonnerstagabend mit dem Kreuzzeichen und enden Karfreitag morgens mit dem Kreuzzeichen. In den zwölf Stunden dazwischen lassen sie einen Nagel nach dem anderen in die Schale fallen. In der leer geräumten Kirche wird sich der Ton der nacheinander aufschlagenden Nägel im Lauf der Nacht verändern. „Wir legen jeden Menschen in Gottes Hände. Jeder Ton, der dabei zu entsteht, ist aber auch ein Schmerzton, der die Frage aufwirft, wie ein Gott existieren kann, der eine solche Pandemie zulässt“, sagt Sebastian Schmid. Für Marios Pergialis ist jeder Ruf „zugleich Klage an Gott als auch Zuspruch, dass wir als Kirche den Opfern gedenken.“ „Ruf“ ist deshalb auch der Titel der liturgischen Performance.

Am Ende der Nacht lässt sich die Schale nicht mehr wegtragen

Pergialis und Schmid werden sich voraussichtlich alle drei Stunden abwechseln, der jeweils andere ist dann für Gespräche, Nachfragen, Reaktionen in der Kirche anzutreffen. „Wir wissen nicht, was das pausenlose Fallenlassen der Nägel, das Wissen um die vielen tausend Verstorbenen und die Symbolik mit uns machen werden“, stellt der Künstler und Pastoralreferent Sebastian Schmid fest. Am Ende der Nacht werden mehr als 200 Kilogramm Nägel in der Schale liegen, die sich dann gar nicht mehr von zwei Menschen anheben und wegtragen lässt. An theologischer Symbolik ist vieles zu finden: Die Nägel erinnern an die Nägel am Kreuz Jesu, die Schale an die Wasserschale, mit der Jesus den Jüngern beim letzten Abendmahl die Füße gewaschen hat, sie erinnert aber auch an die Schale der bevorstehenden Osterfeuer.

Die Kirche bleibt über Nacht geschlossen

Gründonnerstag ist die Nacht vor Jesu Tod, in der er in Einsamkeit und Angst betete und anschließend gefangen genommen wurde. Deshalb wird die Marienkirche während der Nacht für Besucher geschlossen, um gerade auch an die Menschen zu erinnern, die alleine gestorben sind. Ursprünglich hatten Schmid und Pergialis geplant, die Kirche zu Beginn der Nacht und am frühen Morgen für Besucher zu öffnen. Davon aber haben die beiden wieder Abstand genommen: Die Kirche bleibt geschlossen, weil sich die wegen Corona erforderliche Anmeldung, die Teilnehmerbegrenzung und die Erfassung als zu aufwändig erwiesen haben. Wer dennoch an dem Totengedenken teilhaben möchte, hat von Karfreitag morgens an bis über die Ostertage hinaus dazu Gelegenheit. Die Schale bleibt in der Mitte der Marienkirche stehen,  so dass die Kirchenbesucherinnen und -besucher im stillen Gebet der Toten gedenken können. Die Kirche St. Maria ist täglich geöfnet von 10 bis 18 Uhr.

In der Nacht ist die Einsamkeit der Menschen zu spüren

Für den Kunsttherapeuten und katholischen Dekanatsjugendreferenten Marios Pergialis ist die nächtliche liturgische Performance eine Fortsetzung des Gedenkprojekts „DE_SARS_CoV2“, das bis Dezember im Heilig-Kreuz-Münster in Schwäbisch Gmünd zu sehen war. Am Volkstrauertag 2020 hat Pergialis zusammen mit Anthony Di Paola Nägel in Holzwürfel geschlagen, sie aufgestellt und mit den Holzteilen auch die Worte „Fürchtet euch nicht“ gestaltet. Zu diesem Zeitpunkt waren 12 692 Frauen und Männer an Covid-19 verstorben. Für Marios Pergialis ist die liturgische Performance eine Weiterführung des ursprünglichen Gedankens: Die Menschen aus dem Vergessen zu holen und die schiere Zahl erlebbar und erfahrbar zu machen. Marios Pergialis geht es auch darum, die Einsamkeit sichtbar zu machen, der viele Menschen aufgrund der Pandemie am Lebensende ausgesetzt sind: „In der Nacht wird die Einsamkeit der Menschen zu spüren sein, zugleich wird aber auch deutlich, dass sie ihren Platz finden.“

Die liturgische Performance „Ruf“ in Kürze

Die liturgische Performance „Ruf“ beginnt am Gründonnerstag, 1. April, um 20 Uhr in der Marienkirche in der Tübinger Straße und endet am Karfreitagmorgen gegen 8 Uhr. Während der nächtlichen Performance bleibt die Kirche geschlossen. An den Tagen danach aber bleibt die Schale mit den Nägeln in der Marienkirche stehen, so dass die Menschen mit einem Gebet an der Schale den an Corona Verstorbenen gedenken können. Die Kirche St. Maria ist täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet, es besteht wie in allen Kirchen eine Maskenpflicht.  

Aus der Ferne teilhaben

Wer die liturgische Performance aus der Ferne mitverfolgen möchte, dem stehen die Blogs von Sebastian Schmid   und Marios Pergialis offen. Auf dem Facebook, dem Instagram und dem Youtube Account von St. Maria als werden Schmid und Pergialis noch in der Nacht und in den folgenden Tagen Fotos, Videos und Eindrücke einstellen.

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